Austausch zu Brexit, Sicherheit und einer Karriere, die in die ganze Welt führt

Sibylle Katharina Sorg, Botschafterin im Auswärtigen Amt, warb bei Schülerinnen und Schülern der ASS und MES um Engagement für Europa

Europa ist groß, die EU eine abstrakte Verwaltungseinheit, von der man immer nur hört, wenn etwas nicht klappt – diesen Eindruck kann man schnell gewinnen, wenn man sein Meinungsbild aus Kurznachrichten und Headlines zusammenbaut. Dass Europa – bei aller Kritik, die von den Menschen in der EU oft zu hören ist – jedoch Garant für Sicherheit, Wohlstand und Frieden für die Mitgliedsstaaten und somit auch für Deutschland ist, darauf zielte der Austausch ab, den Sibylle Katharina Sorg, einst Wallenröderin und jetzt als Botschafterin im Auswärtigen Amt zuständig für die Beziehungen zu den EU-Mitgliedsstaaten und in der ganzen Welt zuhause, am vergangenen Freitagmorgen einer Schülergruppe der Albert-Schweitzer-Schule und der Max-Eyth-Schule anbot.

„Schule muss das Ohr an der Zeit haben, muss ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln, was die Gesellschaft betrifft“ – mit diesen Worten führte Schulleiter Christian Bolduan in den anderthalbstündigen Ritt durch viele Fragen zu Europa und zur deutschen Außenpolitik ein, zum Brexit und zum Demokratieverständnis in den Gremien, zur Relevanz der EU für Menschen im Vogelsberg und zum Arbeitsalltag in einer täglich wechselnden Gemengelage, von der am Ende Sicherheit und Wohlstand für Deutschland und Europa abhängen. Mit Sibylle Katharina Sorg, die seit mehr als 25 Jahren im Auswärtigen Amt beschäftigt ist und in diesen Jahrzehnten schon für einige Außenminister und an den verschiedensten Orten in der Welt tätig war, hatte die Albert-Schweitzer-Schule eine versierte Referentin und glühende Europafreundin gewinnen können, die auch aus dem Nähkästchen der Schaltzentrale der deutschen Außenpolitik plauderte.

Den Einstieg in eine Fragerunde, die die Schülerinnen und Schüler der PoWi-Kurse zuvor mit ihren Fachlehrern erarbeitet hatten, gestaltete die Diplomatin mit einem Plädoyer: „Europa ist der essentiell wichtige Bezugspunkt, um unsere Interessen in der Welt durchzusetzen.“ Im Wettstreit mit Großmächten wie Russland, China und den USA sei es wichtig, im Verbund aufzutreten, so Sorg, schon die bloßen Einwohnerzahlen – beispielsweise Asien mit 4,5 Mrd. Menschen im Vergleich zu den knapp 500 Millionen in der EU, davon 80 Millionen in Deutschland – machten deutlich, wie die Machtverhältnisse seien. Und Herausforderungen, in denen sich Europa für seine Mitgliedsstaaten behaupten müsse, sieht Sorg nicht wenige: Handelsblockaden zwischen den Großmächten könnten zu Lasten der Europäer gehen, ebenso wie eine aggressive Politik, wie sie von Russland in Syrien oder der Ukraine zu sehen sei. Klimawandel, Digitalisierung und Krisen in Afrika, die sich am Ende für Europa auswirken könnten – all das seien Themen, die kein Land in Europa allein bearbeiten und schon gar nicht im Weltverbund durchsetzen könne. Zu diesen äußeren Herausforderungen addierte Sorg die inneren: Welche Werte wolle die EU gemeinsam durchsetzen? Wie geht man mit den Problemen der Rechtsstaatlichkeit beispielsweise in Ungarn oder Polen um? Wie begegnet man wachsendem Populismus und Rechtsextremismus? Und wie kann man die Migrationsfrage gemeinsam lösen? Dazu kommt natürlich ganz aktuell der Blick auf den Brexit: Wer hat ihn herbeigeführt? (In erster Linie die Wählerinnen und Wähler über 60 Jahre.) Wie kann man ihn gut gestalten? Und wie kann man der Jugend klarmachen, dass ihre Stimme dennoch zählt, wenn sie nur laut genug erhoben wird, sprich, wenn sie alle wirklich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen?

Im Gespräch mit den angehenden Abiturientinnen und Abiturienten wurde deutlich, dass diese sich sehr wohl mit den Möglichkeiten eines sozialverträglichen Wandels in der Umwelt- und Klimapolitik auseinandersetzen oder sich um die Rolle von Großbritannien in der EU und nun außerhalb der EU Gedanken machen. Von Sorg gab es gerade hierzu viele interessante Anstöße, wie beispielsweise die finanziellen Einbußen im Haushalt der EU nach dem Wegfall des großen Nettozahlers aufzufangen seien, wie man die nukleare Sicherheit in der EU darstellen könne, für die hauptsächlich Großbritannien eingetreten war, genauso wie das Land sich – im Gegensatz zu Deutschland – aktiv an militärischen Missionen beteiligt hat. Deutschland, so eine These, müsse hier seinen Standpunkt überdenken. Eine Meinung, die in der Diplomatin erst im Laufe der Jahre gereift ist, wie sie bekannte. Die befragten Schülerinnen und Schüler indes sprachen sich mehrheitlich gegen militärische Aktionen Deutschlands aus. Gleichzeitig skizzierte Sorg auch die Nachteile des Brexits für die Menschen in Großbritannien.

Eine Frage an die Schülerinnen und Schüler ergab, dass ihre Mehrzahl der Meinung ist, dass die EU Relevanz für ihr Leben hat. Später gaben sie an, tatsächlich ihre Infos aus den Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender und den Tageszeitungen zu entnehmen und nicht den schnellen Posts in den sozialen Medien. „Dazu ist Europa zu komplex. Man kann keine Inhalte in einer Kurznachricht kommunizieren“, so die Expertin für Außenpolitik, die auf das Runterbrechen von Inhalten auf Headlines und Einzelaussagen ohne Zusammenhang mit Sorge blickt. „So einfache Antworten und Positionen gibt es leider nicht.“ Mit Blick auf den Brexit fügte sie hinzu, dass die Abstimmung darüber auch ein Beispiel dafür sei, wie man eine „Entscheidung in Abwesenheit einer Faktendiskussion“ herbeiführen könne – allein mit Schlagworten und Emotionen.

Weitere Themen, die von den Schülerinnen und Schülern an diesem Morgen angesprochen wurden, galten der Frage nach dem Lobbyismus und der Zukunft der EU als „Vereinigte Staaten von Europa“. Letztere sieht die Expertin in naher Zukunft nicht kommen: Kulturelle Identität und Autonomie hätten dafür in vielen Mitgliedsstaaten einen zu großen Stellenwert. In dieser Bewertung zeige sich übrigens ganz klar ein Unterschied zwischen den größten und am besten verbundenen Playern in der EU, Deutschland und Frankreich: Während gerade unter Macron die Franzosen den europäischen Gedanken schneller und weiter – aber nur mit einem kleineren „Kerneuropa“ – vorantreiben wolle, sei Deutschland darauf bedacht, auch langsamere Länder, die sich schnell überrollt fühlen könnten, mitzunehmen und dafür eher das Tempo zu drosseln. „Der Zusammenhalt hat seinen Preis“, so die Diplomatin zu dem schier unendlichen Ringen um gemeinsame Positionen und Kompromisse.

Wie ein Land wie Deutschland seine EU- und außenpolitische Marschroute gemeinsam mit dem Außenministerium bestimmt und dann sowohl die Tagespolitik als auch die langfristigen Konzepte danach auslegt, das erfuhren die Schülerinnen und Schüler bei einem kleinen Einblick in den Tagesablauf im Auswärtigen Amt. Wie startet man den Tag mit einer meist über Nacht veränderten Nachrichtenlage? Wer spricht mit wem? Und wo ist zwischen den Diplomaten und Staatssekretären dann eigentlich das Wort des Außenministers, des Parlaments und somit letztendlich die Meinung des Wählers zu finden?

Am Ende dieser hochinformativen zwei Schulstunden warb Sibylle Katharina Sorg für die Mitarbeit im Auswärtigen Amt: Sie stellte Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten vor und präsentierte ihren Beruf als einen, der nie langweilig wird, in die Welt hinausführt und mit vielen Menschen in Kontakt bringt. All das müsse man aber auch mögen, so die Botschafterin in eigener Sache, die wie ihre Kolleginnen und Kollegen im Rotationsprinzip in der ganzen Welt eingesetzt werden kann. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutete der Besuch aus der Hauptstadt auf jeden Fall ein Erkenntniszugewinn – sowohl was Europa betrifft als auch die eigene berufliche Zukunft. Vielleicht spielt ja nun ein weiterer ambitionierter junger Mensch aus dem Vogelsberg mit dem Gedanken an eine weltweite Diplomatenkarriere.

Text und Bild: Traudi Schlitt