
Austern mit Boris Johnson
Am Sonntag, dem 22. September verließ in der Morgendämmerung wieder einmal ein Reisebus mit 49 Schüler*innen und 4 Lehrer*innen der Albert-Schweitzer-Schule Alsfeld in Richtung Großbritannien. Ziel waren die Küsten-Ferienorte Whitstable und Herne Bay in der Grafschaft Kent. Den Schüler*innen wurde während des, übrigens gerade einmal 600km langen, Trips einfach erlebbar, wie vorteilhaft es ist, in einem vereinten Europa zu leben, denn obwohl wir drei Grenzen überquerten, mussten wir nicht kein einziges Mal die Pässe vorweisen. Das änderte sich jedoch im Hafen von Calais, wo Mensch und Bus eingehend kontrolliert wurden, Letzterer unter anderem durch einen Spürhund, der mit viel Enthusiasmus seinen Job erledigte. Es erinnerte schon ein bisschen an längst vergangene Zustände an der innerdeutschen Grenze, nur dass es hier, am Übergang von Frankreich nach Großbritannien, nicht um unerlaubte Ausreise ging, sondern um unerlaubtes Eindringen. Es ist auch die weit gehende Ablehnung der Zuwanderung, welche eine knappe Mehrheit der Briten (51,89%) bewog, beim Referendum von 2016 den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union zu verlangen.
Schon während wir uns Calais näherten, verschlechterte sich das Wetter. Im Kanal herrschte schließlich Sturm, sodass das Anlegen in Dover etwas länger dauerte. Den Schüler*innen machte das nichts, im Gegenteil, sie fanden es spannend.
Unser Programm war das übliche, bewährt bei inzwischen zwölf Studienfahrten nach England. Am Montag gab es während der Stadt-Erkundungsrallye dennoch einen neuen Punkt. Wer wollte, konnte in Whitstable, auch bekannt als Austern-Hauptstadt Englands, solch eine Muschel kosten. Salzig und von der Konsistenz eines Gummibärchens, lautete das übereinstimmende Urteil; Austernfans haben wir keine erzeugt, dessen sind wir sicher. Anschließend besuchten wir ein kleines Museum, welches der Luftschlacht um England (Juli bis Oktober 1940) gewidmet ist, komplett mit zwei englischen Jagdflugzeugen aus jenen dramatischen Tagen. Nach einem ersten Test, ob denn auch die Englischkenntnisse zum Shopping reichen, besichtigten wir dann noch den Badeort Broadstairs. Morgens war es noch sonnig gewesen, am Spätnachmittag aber herrschte wieder Sturm. Die Kinder hatten in Broadstairs viel Spaß beim Katz-und-Maus-Spiel mit hohen Wellen, die an die Küstenbefestigung brandeten.
Am Dienstag ging es dann nach London, d.h. zunächst nach Greenwich, einen östlichen Vorort. Es regnete, was ja in England nichts Ungewöhnliches ist. Dennoch waren wir froh, dass der erste Programmpunkt drinnen stattfand. Die Kinder durchstöberten, bewaffnet mit Fragebögen, die Cutty Sark, ein Teeklipper aus dem Jahre 1859, dann ging es per Motorboot zum Tower, wo Kronjuwelen, Folterkammern, Verließe und Hinrichtungsorte lockten, die üblichen touristischen Glanzpunkte. Dann setzte erneut der Regen ein, und wenn wir Regen sagen, dann meinen wir Regen. Es schüttete wie aus Kübeln. Sturzbäche glucksten über den abfallenden Boden des Tower, rauschten die Treppen hinab, überfluteten den großen Platz vor der Burg (sowie einen großen Souvenirladen). Der guten Laune der Schüler*innen tat dies keinen Abbruch, obwohl viele ziemlich nass wurden.
Am Mittwoch besichtigten wir, zur Abwechslung im Regen, die Burg von Dover, eine beeindruckende Festung aus der Zeit des Königs Heinrichs II (2. Hälfte 12. Jhdt.). Auf deren Gelände befindet sich auch das geheime Tunnelsystem, von wo aus die Operation Dynamo, die Rettung von 320.000 Soldaten (darunter 180.000 britischen) aus dem von der Nazi-Wehrmacht umzingelten Dünkirchen, koordiniert wurde. Wie bekannt, erwiesen sich die Ressourcen der britischen Marine als zu schwach für die Evakuierung; erst der Einsatz hunderter Freiwilliger, die sich mit Privatjachten, Fischerbooten und Ausflugsdampfern auf den Weg machten, ermöglichte die Massenrettung, trotz Attacken der Nazi-Luftwaffe und –Marine. Dem Ereignis ist eine nagelneue, beeindruckende Multi-Media-Show gewidmet, und das wohl nicht ganz zufällig. Viele Briten, die pro EU-Ausstieg stimmten, scheinen eben diesen Ausstieg als etwas zu betrachten, was der Operation Dynamo irgendwie entspricht – weg von den unzuverlässigen Franzosen und den übermächtigen Deutschen. In diese Ecke gehört auch der Film Dunkirk von Regisseur Christopher Nolan, in Großbritannien ein großer Publikumserfolg. Auch darin wird etwas beschworen, was man den Geist von Dünkirchen nennt – wenn alle zusammenarbeiten, so bringt man auch gewagte und gefährliche Projekte zum Erfolg, ohne Franzosen und erst recht ohne Deutsche. Der Mittwoch klang aus im mittelalterlichen Canterbury, wohin ja bekanntlich der Alte Lord im Ford fährt, hin zur Mary Lou. Ohne Regen.
Am Donnerstag ging es dann noch einmal nach London, wieder einmal im Regen, der uns aber nichts ausmachte, da er uns, die wir im London Eye fuhren, dem Riesen-Riesenrad, nicht erreichen konnte. Während wir bei Sonnenschein zum Buckingham Palast wanderten, rauschte Premierminister Boris Johnson an uns vorbei. Er war auf dem Weg vom Unterhaus zu seinem Amtssitz in der Downing Street No.10. Es war wohl gerade wieder ein Brexit-Plan gescheitert und Johnson wollte sicher an die Arbeit gehen, den nächsten zu ersinnen. Für uns ging es weiter, zuerst zum Londoner Haus der Königin, dann nach Covent Garden, dem ehemaligen Londoner Obst- und Gemüsegroßmarkt, und dann zum Theater-Workshop plus Besichtigung des nachgebauten Globe-Theaters, den Geist des unsterblichen William Shakespeares zu atmen.
Apropos Brexit. Über den nach Süden führenden Straßen Großbritanniens waren große Hinweistafeln angebracht, auf denen zu lesen stand, dass es ab dem 1. November 2019 geänderte Bedingungen für den Warenverkehr mit der EU gäbe. Nun, das ist ja erst einmal nicht eingetreten. Unser Verkehr mit der EU, d.h. unser Heimweg, verlief am Freitag völlig problemlos, obwohl im Kanal wieder Sturm herrschte. Fazit: ASS-Kent-/Londontrip 2019 – ein voller Erfolg.
Text und Bild : Volker Zähme