Das Geheimnis des Sandmanns bleibt ungelüftet
Großes Theater an der ASS: Schauspieler Reimund Groß präsentiert E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ als Theater- und Erzählstück
„Sprache ist mehr als technische Medien vermitteln können. Sprache ist die Farbe der Gedanken. Sie atmet und schwitzt. Sie leidet und hofft. Die Sprache lebt.“ Diesen Beweis tritt Schauspieler Reimund Groß immer wieder gerne an. Gemeinsam mit der Schauspielerin Annette von Klier hat er die „Literaturbrauerei“ gegründet – ein Theater, das jungen Menschen literarische Texte aus vergangenen Zeiten vermitteln möchte. Anfang des Jahres hatte Groß den Schülerinnen und Schülern der ASS auf seine ganz eigene Art und Weise bereits Georg Büchners „Woyzeck“ vorgestellt, nun hatte er mit dem „Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann kein klassisches Theaterstück dabei, sondern eine Erzählung, die er in einer Mischung aus Darstellung und Erzähltheater zum Besten gab. „Ein Hörbuch zum Sehen“, wie Groß es nannte. Dabei schlüpfte er in verschiedene Rollen und bediente sich auf seiner minimalistisch ausgestatteten Bühne am Mittelstufenstandort der Albert-Schweitzer-Schule nur einiger weniger Requisiten.
Die Schülerinnen und Schüler lernten den Studenten Nathanael kennen, der in einem Briefwechsel mit seinem Freund Lothar und dessen Schwester Clara zunächst über sein Kindheitstrauma spricht: Damals erlebte er den Sandmann als furchteinflößenden Menschen, der abends mit schweren Schritten den Vater aufsuchte, nachdem die Kinder schon schlafen geschickt worden waren. Heimlich beobachtete Nathanael, wie beide Männer merkwürdige Experimente machten. Für das Kind Nathanael ergab dies einen Zusammenhang mit einem fürchterlichen Ammenmärchen, nach dem der Sandmann Kinderaugen sammelt. Augen glaubte er während der Experimente zu entdecken und diese sieht er auch später immer wieder, als ein Wetterglashändler, der ihn an den bösen Sandmann seiner Kindheit erinnert, ihm ein „Perspektiv“, ein Beobachtungsfernrohr, verkauft. Clara, seine Verlobte, tut seine immer wahnsinniger erscheinenden Erinnerungen und Ängste als erklärlich ab. Währenddessen verliebt sich Nathanael in die vermeintliche Tochter seines Professors, die sich jedoch als perfekt gebauter menschlicher Automat herausstellt – mit Augen, die der Wetterglashändler geliefert hat. All das wird dem ohnehin labilen Nathanael zu viel. Er stürzt sich zu Tode.
Wie die Geschichte selbst, erhielt auch die Aufführung ihre Anziehungskraft zum einen aus dem Horror, der darin liegt: das Erschaffen von menschlichen Automaten, der Handel mit offenbar menschlichen Augen, alchimistische Experimente. Zum anderen wurde auch die Spannung deutlich, die zwischen dem liegt, was ist und was sein könnte und was auch am Ende ungelöst bleibt: Sind die Visionen Nathanaels doch die Wahrheit oder gibt es für alles eine Erklärung?
Reimund Groß gibt diesen Empfindungen mit seiner Darstellung eine Bühne, durch die Mischung aus Erzählung und Spiel wird der Inhalt sehr gut greifbar – trotz der Sprache, die Groß absichtlich nicht modernisiert hat. Es geht ihm bei seinen Bearbeitungen um Werktreue, um eine Einordnung in die Epoche der Entstehung, um eine Weitergabe der damaligen Sicht, um daraus auch auf die Gegenwart zu schließen, beschrieb er seinen Ansatz. Die Schülerinnen und Schüler der Q2 dankten es dem Schauspieler mit viel Applaus und mit einem angeregten Gespräch nach der Aufführung, in dem es zum einen um E.T.A. Hoffmann „als Sonderfall der Romantik“ ging, zum anderen aber auch um die Frage nach Dichtung und Wahrheit sowie der Macht der Maschinen – Fragen, die offenbar vor zweihundert Jahren so aktuell waren wie heute, wo man es mit Nachrichten zu tun hat, denen man nur noch bedingt trauen kann und die Diskussion um künstliche Intelligenz nicht immer nur Vertrauen weckt.
Dass es ihm selbst Neigung ist und vielen Schülerinnen und Schülern eher Pflicht, sich mit der Literatur der Vergangenheit zu beschäftigen, darüber ist Groß sich durchaus klar. Wenn es aber gelingt, wie in dem Fall des „Sandmann“, aufzuzeigen, wie gegenwärtig zweihundert Jahre alte Inhalte sein können und wie spannend immer noch die Frage ist, was an Nathanaels Vorstellungen Realität und was Wahn war, dann handelt es sich sicherlich um eine kulturelle Win-Win-Situation. Viele Schülerinnen und Schüler werden das so wahrgenommen haben.
Dass Fachbereichsleiterin Christiane Martin den Schauspieler Reimund Groß bereits zum zweiten Mal in Alsfeld begrüßen durfte, ist einer Initiative der Fachschaft Deutsch an der Albert-Schweitzer-Schule zu verdanken. Finanziert wurden die Veranstaltungen aus Mitteln des Projekts „Löwenstark“ des Hessischen Kultusministeriums.
Text und Bilder: Traudi Schlitt