Lokale Geschichte erlebbar machen
Albert-Schweitzer-Schule schließt Kooperationsvertrag mit Hessischer Landeszentrale für Politische Bildung
Was man im Schulunterricht lernt, ist das eine, was man selbst erfährt, erläuft, begreift und emotional erfasst, ist das andere. Gerade mit Blick auf Demokratiebildung spielt geschichtliches Wissen eine große Rolle und gerade hier sind Nischen für eine außerschulische Wahrnehmung besonders wichtig. An der Albert-Schweitzer-Schule gibt es daher schon lange Geschichtsstunden, die außerhalb des Klassenzimmers stattfinden und stets ihren Bezug zur Gegenwart finden. Nun wurde auch das neugegründete Referat „Politische Bildung im ländlichen Raum“ der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung (HLZ) auf das Engagement der Schule, und hier insbesondere des Geschichtslehrers Michael Rudolf, aufmerksam. Dessen Referatsleiterin Dr. Monika Hölscher ist in Alsfeld keine Unbekannte. Sie freute sich umso mehr, mit dem Gymnasium ihrer Heimatstadt einen Kooperationsvertrag zur Förderung außerschulischer Unterrichtsprojekte abzuschließen.
„Schon lange arbeiten wir in verschiedenen Bereichen mit Zeitzeugen zusammen, unternehmen Exkursionen in Archive und zu Originalschauplätzen, um unseren Schülerinnen und Schülern tiefe und nachhaltige Eindrücke zu vermitteln, nicht zuletzt, um ihnen vor Augen zu führen, in welch glücklichen Umständen sie heute trotz allem leben“, fasste Schulleiter Christian Bolduan das Engagement seiner Schule zusammen, als er sich mit Hölscher, Rudolf und Verena Wickles von der Fachschaft Geschichte zum Unterschriftstermin in seinem Amtszimmer einfand.
Aktuell beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit dem Thema Flucht und Vertreibung, wie Rudolf ausführte. Er, der selbst noch seiner Großmutter, die aus Eger nach Alsfeld gekommen war, lauschen durfte, weiß, wie wichtig das Wissen um Flucht und Vertreibung nicht nur für die eigene Biografie ist, sondern auch für die Identität eines Landes, das sich als BRD gemeinsam mit Flüchtlingen und Vertriebenen geformt hat. Für besonders interessierte Schülerinnen und Schüler bietet der Historiker daher einen Oberstufenkurs zu genau diesem Thema an, nicht zuletzt, weil das Jahr 2022 ganz im Zeichen von „75 Jahre Flucht und Vertreibung“ steht und auch in Alsfeld an vielen Stellen auf die Bedeutung dieses Themas für die Stadt hingewiesen wird.
Zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen wurden bereits verschriftlicht, Studienfahrten führen in die hessischen Archive. Viele Gespräche und Erkenntnisse werden derzeit in einer Broschüre festgehalten, die bereits mit der Unterstützung der HLZ entsteht und noch im Jubiläumsjahr fertig werden soll. Daneben ist auch die Konzeption eines Stadtrundgangs zum Thema geplant. „Es kommen immer mehr Experten und Zeitzeugen hinzu“, freut sich Rudolf, der betonte, wie hilfreich die Kooperation mit der HLZ dafür ist. Darüber hinaus unterstrich er die Bedeutung des lokalen Blicks auf die Geschichte.
Die Freude lag ganz offensichtlich auch auf der Seite der HLZ. Monika Hölscher umriss die Bedeutung der Zuwanderung speziell nach dem Zeiten Weltkrieg nicht nur Alsfeld, sondern den ganzen Vogelsberg. Darüber hinaus sehe man derzeit einmal mehr, dass Flucht und Vertreibung ständige Themen bleiben: „Intellektuelle und ganze Volksgruppen, die vor den Nazis fliehen mussten, fehlende Frauenrechte, Armuts- und Klimaflucht, Kriege und Not – es gibt viele Fluchtursachen“, führte die Historikern aus und betonte: „Der Umgang mit der Geschichte ist absolut notwendig, um die Gegenwart zu verstehen. Man kann dies tun, in dem man von einem Punkt aus exemplarisch startet und von da aus den Blick weitet.“ Hölschers Referat beteiligt sich im Rahmen der Kooperation sowohl an der Finanzierung verschiedener Zeitzeugenprojekte und Publikationen; es werden Exkursionen gefördert und bestehende Netzwerke zur Verbreitung der Publikationen genutzt. „Wir möchten damit auch Toleranz und Verständnis wecken und die Bereitschaft, die Gegenwart mitzugestalten“, beschrieb Hölscher ein weiteres Ziel der Kooperation.
Wickles betonte, dass es für Schülerinnen und Schüler besonders wichtig sei, zu sehen, dass Geschichte nicht nur in Geschichtsbüchern nachzulesen ist, sondern dass sie real mit richtigen Menschen stattgefunden hat. Auch einen Bezug zur eigenen Lebenswelt, den Erfahrungen der Großeltern beispielweise, zu schaffen, sei von enormer Wichtigkeit, so Bolduan. Rudolf unterstrich, dass hier gerade der Einsatz von Zeitzeugen eine gewaltige Wirkung habe, da sie Geschichte in die Gegenwart holten. Beispielhaft beschrieb er ein Projekt, das derzeit mit dem Zeitzeugen Helmut Gläser läuft. Dieser nahm von seinem Wohnort Heimertshausen täglich einen mehrstündigen Schulweg auf sich und legte bei Wind und Wetter mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Diesen Weg wollen die Schülerinnen und Schüler des Kurses nachgehen und auf diese Weise Geschichte erleben.
Geschichte erlebbar machen, das Abstrakte konkret machen und die Menschen hinter der Zeitgeschichte sehen: eine Idee, die Sinn ergibt und die Schule und HLZ nun gemeinsam weiter vorantreiben werden.
Text und Bild: Traudi Schlitt